Didaktik-Labor, Helmut M. Selzer
 
 
 

1 Leistungsstarke Auszubildende nachhaltig fördern. - Ein Modell zur Individualisierung und Differenzierung im dualen System.


Das Vorhaben war darauf angelegt, Leistungsstärken bei nichtakademisch gebildeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu erkennen und zu fördern. Es zielte darauf ab, schlummernde Human-Potentiale frühzeitig zu heben und Leistungsstarke im Verlauf der Berufsausbildung herausragend zu plazieren.

Die Studie ging von folgenden Annahmen aus:

* Besonders leistungsfähige Auszubildende werden im Rahmen der dualen Ausbildungen eher unterfordert, als gezielt (d.h. ihrer Leistungsfähigkeit gemäß) gefördert.

* Für die wissenschaftliche Diagnostik und für eine paßgenaue Förderdidaktik sind Instrumente zu entwickeln bzw. vorhandenen zu optimieren, mit denen sich Dysfunktionen bei der Ausbildung besonders Leistungsfähiger rascher erkennen lassen und gesellschaftlich-bildungsorganisatorische wie betrieblich-ausbildungsstrategische Fehlentwicklungen nachjustieren lassen.

* Es liegt im Interesse einer leistungsanregenden und motivierenden Ausgestaltung des dualen Ausbildungssystems, daß nachgewiesene Leistungsstärke durch besondere Zusatzangebote des Ausbildungssystems gefördert und honoriert wird.

Fazit: Auf der Basis ihrer Recherchen und Beobachtungen neigen die Initiatoren der Studie zu der Ansicht, daß derzeit ein Nachholbedarf an beruflicher Begabungsförderung im Bereich der dualen Berufsausbildung besteht.


 

2 Hypothesen zur Förderung von Leistung während der Berufsausbildung


Vernetzungs-Hypothese 1: Zukunftsorientierte Ausbildung für offensichtliche Leistungsträger bedarf der inhaltlich-fachlichen Vernetzung mit attraktiven Komplementärkompetenzen und zwar über bestehende Ausbildungsrichtlinien hinaus.

Innovations-Hypothese 2: Bestehende Regeln rigider Ausbildungsordnungen sind im konkreten Fall dort zu durchbrechen, wo sie innovative Entwicklungen von leistungsförderlichen Ausbildungswegen behindern.

Reifezeit-Hypothese 3: Leistungsstarken Auszubildenden fehlt in unterschiedlichen Ausprägungen eine Zeit der intellektuellen und der Persönlichkeits-Entwicklung im Vergleich zu Jugendlichen mit länger zugestandenen schulischen Bildungsphasen.

Erfahrungsprognose-Hypothese 4: Ausbilder im dualen System entwickeln sehr früh (spätestens bis zum dritten Ausbildungsmonat) eine recht präzise Einstellung bezüglich der Leistungsfähigkeit eines in die Ausbildung aufgenommenen Auszubildenden. Gemeinhin werden diese 'Erfahrungsprognosen' weitgehend akzeptiert; in der Regel wird ihnen bis zu den Prüfungen nicht widersprochen.

Auswahl-Hypothese 5: Mit einem wissenschaftlich abgesicherten Diagnostik-Instrument zur differenzierten Erkennung leistungsstarker Auszubildender können die Auswahlverfahren bezüglich der in den Modellversuch einzubeziehenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen valide begründet werden.

Förderdidaktik-Hypothese 6: Unterstützt mit einer abgesicherten Förderdidaktik für leistungsstarke Auszubildende können sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen Bildungsformate aneignen, die - bildungskonzeptionell bilanziert - gymnasialer Verschulung mindestens gleichwertig sind.



Sechs Ausgangshypothesen (H. M. Selzer)
 

3 Leistungsstärke bei Auszubildenden


Wie läßt sich Leistungsstärke bei Auszubildenden erkennen? Für die Studie wurde die folgende Annahme zum Identifizieren der gesuchten Population benutzt.

Beschreibung des Leistungsstarken / Vermutungen zum leistungsstarken Auszubildenden

Da eine zureichende Definition dieses Personenkreises im Sinne dieser Studie nicht vorlag, wurde die folgende pragmatische Beschreibung als Arbeitsgrundlage benutzt. Leistungsstarke Auszubildende in gewerblich-technischen Berufen werden mit folgenden Merkmalen attribuiert:

Leistungsstarke Auszubildende. . .
. . erbringen eine wesentlich bessere Ausbildungsleistung als der Hauptteil der Auszubildenden eines Jahrganges,
. . schaffen ein vorgegebenes Arbeitspensum in erheblich kürzerer Zeit als der Durchschnitt,
. . weisen eine Wahrnehmung, Kommunikation, Artikulation und Sprache auf, die über den Durchschnitt ragt,
. . verfügen über schon weit entwickelte Schlüsselqualifikationen,
. . zeigen eine erkennbare Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen,
. . lassen schon früh vermuten, daß sie einst betriebliche Leitungsfunktionen übernehmen können.

Hier wird auf pragmatische Art eine Beschreibung von Merkmalen vorgenommen, die sowohl jeweils einzeln wie in ihrer Summe Besonderheiten eines leistungsstarken Auszubildenden wiederspiegeln.

Leistungsstarke Jugendliche in der beruflichen gewerblichen Ausbildung kennzeichnet die Studie zusätzlich mit folgenden Merkmalen, wozu vor allem soziale und individuelle Kompetenzen vielfältiger Ausprägung gehören:

* Ein Jugendlicher, der an seiner Lebensphilosophie arbeitet, der versucht, zu einer individuellen Bewußtheit zu kommen und zwar schon in relativ jungen Jahren.

* Ein Jugendlicher, der eingebunden ist in seine soziale Umwelt und dennoch ein Einzelner, ein Unverwechselbarer bleibt. An diesem Merkmal der ausgeprägten charakterlichen Individualität wird trotz gegengerichtetem Mainstreams als einer besonderen Charakteristik für den benannten Personenkreis festgehalten.

* Ein junger Mensch, der sich dem Diktat des Zeitdruckes nicht (gänzlich) unterwirft. Wer sich dem diese Gesellschaft in hohem Maße prägenden Zeitdrucksystem entzieht, gibt seinerseits zu erkennen, daß er eine entwickelte Individualität schon hat, oder zumindest anstrebt.
Das Kriterium Resistenz gegen Zeitdruck bedarf der Erklärung. Nicht Unpünktlichkeit, nicht Zeitschlampigkeit ist hier gemeint, sondern die Fähigkeit, sich und seine Zeitressource abzuwägen und realistische Entscheidungen zu fällen. Dies heißt auch, in bestimmten Fällen rechtzeitig nein sagen zu können.

* Damit wäre eine weitere Dimension der Beschreibung dieser Persönlichkeit genannt. Ein ausgeprägter Ja-Sager ist kein Leistungsstarker, denn als solcher möchte er sich anpassen, anhängen, mitlaufen. Derjenige, der gelernt hat, nein zu sagen, zeigt, daß er auch neben und außerhalb der Gruppe stehen kann, wenn ihn der von ihm nicht akzeptierte Mainstream dazu zwingt.

* Leistungsstarke Auszubildende sind in der Lage, sowohl einzeln für sich wie auch in der Gruppe effektiv zu arbeiten. Beide Fähigkeiten müssen entwickelt sein, auch unter dem Aspekt, daß bisweilen mehr Wert gelegt zu werden scheint auf die Fähigkeit des 'kollektiven' Arbeitens, m.a.W. des Arbeitens im 'Team'.

* Im Konflikt eine vermittelnde Rolle übernehmen können, ist eine erwartete Fähigkeit, bei Auseinandersetzungen klar und eindeutig seine Position verteidigen und durchsetzen können, ist eine andere. Auch hier wird der Spannungsbogen zwischen der vermittelnden Kompetenz und der Durchsetzungskompetenz eine Voraussetzung für Führungsverhalten sein. Führen können bedeutet somit, mit der eigenen Person zurechtkommen, die Spannungen im Ich aushalten und auflösen können und zusätzlich noch Spannungen von außen integrieren oder abbauen können.

Die Fähigkeit eines jungen Menschen, seine vielfältigen personalen Ausprägungen bewußt zu entwickeln und sich immer wieder in gesellschaftlichen oder individuellen Spiegeln zu betrachten, muß angelegt sein und weiter befördert werden. Die Förderung dieses hier zu entwickelnden Programms soll allen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zukommen, welche die oben genannten Voraussetzungen erfüllen oder deren Persönlichkeitsentwicklung in solcher Richtung erkennbar ist.

Beim derzeit gebräuchlichen Begriff berufliche Begabung wird die Unzulänglichkeit des Begabungsbegriffes für den hier zu beschreibenden Personenkreis kritisiert.

* Der Begabungsbegriff ist historisch einseitig besetzt und tendenziell - vor allem, wenn er mit einem segmentierenden Attribut verbunden wird - in die Nähe von sogenannter Hochbegabung gerückt. Die Hochbegabtenforschung und -förderung weisen in eine gänzlich andere Richtung als der hier vorgestellte Ansatz.

* In diesem Ansatz soll eine Personengruppe beschrieben werden, die nicht durch ihr Spezialistentum brilliert und nicht durch exzellente Einseitigkeit ausgezeichnet ist, sondern durch ein Breitbandspektrum an Kompetenz in einer beruflich bedingten Vielseitigkeit.

* Da dieser Ansatz zudem eher den status nascendi hervorhebt, soll der Zustand des Ausgebildet-Werdens, des In-Ausbildung-befindlich-Seins in der begrifflichen Umschreibung enthalten sein.

Ein Fazit: Die Studie lehnt zur Beschreibung des diskutierten Personenkreises alle auf Begabung gestützten Begriffe ab und plädiert für den Begriff leistungsstarke Auszubildende, weil damit den oben genannten Kriterien nach derzeitigem Sprachverständnis am ehesten entsprochen wird.



Quelle: Helmut M. Selzer: Beschreibung des Leistungsstarken / Vermutungen zum leistungsstarken Auszubildenden. In: Leistungsstarke Auszubildende nachhaltig fördern. Ein Modell zur Individualisierung und Differenzierung im dualen System. Herausgegeben von H.M. Selzer, M. Weinkamm, C. Heese (1998). Dettelbach (J.H.Röll-Verlag)


 

4 Modular-Konzept


Modular-Konzept im Kontext 'Didaktik-Katalog'. In der Studie wird vorgeschlagen, ein offenes Modularkonzept für die Organisation und Ausgestaltung der zusätzlichen Ausbildungsbausteine zu benutzen.
Von insgesamt elf benannten Modulen soll jede/r Auszubildende, der sich dieser zusätzlichen Qualifizierungskampagne anschließt, zwei bzw. drei Module im Verlauf von zwei Ausbildungsjahren durcharbeiten.

Unterschieden werden in der Studie fünf zusätzliche Ausbildungsbausteine, welche Zusatzqualifikationen komplementär zu den im Ausbildungsberuf nachzuweisenden Qualifikationen enthalten und fünf Kompetenzbereiche, die sich vor allem auf die Persönlichkeitsentwicklung beziehen.



Eine Übersicht über die vorgeschlagenen Module ist als PDF-Datei verfügbar.

 

5 Didaktik-Katalog


Individualisierung als Prinzip der Bildungsorganisation ist eine Voraussetzung dafür, daß von den Auszubildenden Leistungsstärke entwickelt werden kann. Die angehenden Facharbeiter begreifen so, ihre Lernprozesse nach persönlichem Zuschnitt selbst zu organisieren.

Zur inhaltlichen Ausgestaltung der für den Modellversuch vorgeschlagenen Module wird eine didaktische Organisationsform gewählt, welche den streng geregelten Anspruch eines Curriculum vermeidet, um genügend Offenheit und Flexibilität zu gewähren, daß alle am Ausbildungsprozeß beteiligten Träger wie die Einzelakteure die Herausforderung erkennen und annehmen können, daß es auch im Inhaltlichen um neue, in ihrer Kombination bislang so nicht praktizierte Ausbildungs- und Bildungsmenüs geht.

Die für die Studie entwickelte und dem Modellversuch vorgeschlagene Form des Didaktik-Kataloges ermöglicht die Reduzierung der Vorgaben auf ein Minimum an Verbindlichkeit, wobei die Vorgaben, auf einem hohen Abstraktionsniveau formuliert, breite Felder abdecken. Ein Didaktik-Katalog gibt in seiner entwickelten Form eine Fülle von Anregungen, aus denen Träger und Unterweiser die für die jeweilige Gruppe bestgeeigneten Thematiken und Fragestellungen auswählen. Das von H.M.Selzer entwickelte Konzept des Didaktik-Katalogs wurde zur Grundlage des didaktischen Konzeptes dieser Studie genommen.

Ein Didaktik-Katalog ist offen für regionale und individuelle Ausgestaltung, er ist offen für rasche Anpassung an veränderte Ausbildungserwartungen, und er ist offen für Ausbildungsinnovationen vielfältiger Art. Didaktik-Kataloge fordern allerdings auch ein Mehr an didaktischer Kompetenz von Ausbildern und Lehrern.



Hinweise zum Didaktik-Katalog finden Sie vorläufig im Themenfeld 6 des Publikationen-Verzeichnisses.

 

6 Die Studie


'Leistungsstarke Auszubildende nachhaltig fördern. - Ein Modell zur Individualisierung und Differenzierung im dualen System'.
Projektkürzel: LAnf

Initiator und Inspirator: Max Weinkamm, Geschäftsführer Kolping Bildungswerk Landesverband Bayern. An der Realisierung der Studie war er von der ersten Initiative an leitend beteiligt.

Die Studie wurde im Auftrag des Kolping-Bildungswerkes, Landesverband Bayern vom Didaktik-Labor Selzer erarbeitet.

Wissenschaftliche Leitung und Organisation der Studie (einschließlich Erhebungen und Befragungen, Konzeptentwicklung und -erstellung, inhaltlicher und organisatorischer Planung des Modellversuchs): Helmut M. Selzer, Pappenheim.

Bearbeiter:
Als freie wissenschaftliche Mitarbeiter wirkten an der Studie mit
Ernst Niebler, Dipl.-Päd. für Unternehmensbefragung,
Bernd Wiest, Dipl.-Päd. für Telelernen und 'Materialien im Internet',
Michael Kasparik, M.A. für Modul P5,
Thomas Kurzendorfer für Recherche,
ferner Christine Pfaller für Organisation, Textbearbeitung und Redaktion.

Beteiligt war der Lehrstuhl für Sozialpädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt: Prof. Dr. Hans-Ludwig Schmidt und Dr. Carl Heese. Carl Heese ist Mitherausgeber des Bandes.
Von Seiten der Dr. Reinold Hagen Stiftung waren an inhaltlichen Fragestellungen beteiligt Achim Kern und die Geschäftsführer Dr. Willi Fuchs und Dr. Helmut Greif.
Von Seiten der Kolping-Bildungswerke waren beteiligt Eugen Schäfer, Würzburg und Peter Wirnseer, Augsburg. Teilaufgaben betreute Wolf-Rüdiger Dähnrich.

Förderung durch Dr. Reinold Hagen Stiftung, Bonn und durch das
Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft, Verkehr und Technologie, München

Träger:
Kolping Bildungswerk Landesverband Bayern, München
Dr. Reinold Hagen Stiftung, Bonn

Begonnen: 1996
Abgeschlossen: 1998
Publiziert: 1998

Die Kurzfassung der Studie ist als PDF-Datei verfügbar.

Weitere Texte aus der Studie.

Das Buch zur Studie:

Leistungsstarke Auszubildende nachhaltig fördern. Ein Modell zur Individualisierung und Differenzierung im dualen System. Herausgegeben von H. M. Selzer, M. Weinkamm, C. Heese (1998). Dettelbach (J.H.Röll-Verlag) ISBN 3-89754-131-9 (278 Seiten)

 

7 Resultate des Modellversuchs


Im Frühsommer 2003 fand der Modellversuch 'Leistungsstarke Auszubildende nachhaltig fördern' (LAnf) bei Dr. Reinold Hagen Stiftung in Bonn seinen erfolgreichen Abschluß.

Am Lehrstuhl für Sozialpädagogik der Universität Eichstätt (Prof. Dr. Hans-Ludwig Schmidt) wurde die wissenschaftliche Begleitung des Modellversuchs durchgeführt.
Leitung: Dipl.-Psych. Dipl.-Päd. Margit Stein
Mitarbeit: Dipl.-Psych. Beatrice Günther
Projektassistenz: Annette Mursch.